Der junge Archimedes
von Aldous Huxley1)
[…]
Er war kein Mozart. Nein. Aber er war, wie ich herausfinden sollte, genauso außerordentlich. An einem Morgen zu Anfang des Sommers machte ich diese Entdeckung. Ich saß im warmen Schatten unseres nach Westen gelegenen Balkons und arbeitete. Guido und Robin spielten in dem kleinen, eingefriedeten Garten darunter. In meine Arbeit vertieft, merkte ich erst, nachdem die Stille, wie ich vermutete, schon lange gedauert hatte, dass die Kinder bemerkenswerter wenig Lärm machten. Kein Schreien, kein Herumrennen war zu hören; nur ein ruhiges Sprechen. Wenn Kinder ruhig sind, das wußte ich aus Erfahrung, bedeutete es gewöhnlich, dass sie in irgendeinen ergötzlichen Unfug vertieft sind, und ich erhob mich daher von meinem Stuhl und blickte über das Geländer, um zu sehen, was sie trieben. Ich erwartete, sie dabei zu überraschen, wie sie im Wasser hermuplantschten, ein Feuer von Reisig entfachten oder sich mit Teer beschmierten. Was ich aber in Wirklichkeit erblickte, war Guido, wie er, einen angekohlten Stab in der Hand, auf den glatten Steinfliesen des Gartenweges darlegte, dass das Quadrat über der Hypotenuse eines rechtwinkligen Dreiecks gleich ist der Summe aus den Quadraten über den anderen beiden Seiten.
Auf dem Boden knieend, zeichnete er mit dem Ende seines geschwärzten Stabes auf den Steinfliesen. Und Robin, der, ihn imitierend, neben ihm kniete, wurde, wie ich sehen konnte, recht ungeduldig bei diesem sehr langsamen Spiel.
„Guido!“ sagte er. Aber Guido beachtete ihn nicht. Nachdenklich, die Stirn in Falten, arbeitete er weiter an seiner Zeichnung. „Guido!“ Das jüngere Kind beugte sich vor und verdrehte dann den Hals, um in Guidos Gesicht aufblicken zu können. „Warum zeichnest du keinen Eisenbahnzug?“ „Nachher“, sagte Guido. „Ich will dir nur erst das da zeigen. Es ist so schön“, setzte er überredend hinzu. „Aber ich will einen Zug“, beharrte Robin. „Gleich, Wart nur noch einen Augenblick!“ Der Ton war beinahe beschwörend. Robin wappnete sich mit erneuter Geduld. Eine Minute später war Guido mit seinen beiden Zeichnungen fertig. „So!“ sagte er triumphierend und richtete sich auf, um sie zu überblicken. „Jetzt werd ich's dir erklären.“
Und er begann, den Lehrsatz des Pythagoras zu beweisen - nicht nach der Methode Euklids, sondern nach der einfacheren und befriedigenderen, die, aller Wahrscheinlichkeit nach, von Pythagoras selbst angewendet worden war. Der hatte ein Quadrat gezeichnet und es durch zwei sich im rechten Winkel schneidende Geraden in zwei Quadrate und zwei gleich große Rechtecke zerlegt. Die gleichen Rechtecke zerlegte er durch Diagonalen in vier gleich große rechtwinklige Dreiecke. Man sieht dann, dass die beiden Quadrate die Quadrate über den Katheten der zwei Dreiecke sind. Das ist die erste Zeichnung. Bei der zweiten nimmt man die vier rechtwinkligen Dreiecke, in die die Rechtecke zerlegt wurden, und ordnet sie von neuem rund herum in dem ursprünglichen Quadrat an, und zwar so, dass ihre rechten Winkel die Ecken des Quadrates ausfüllen, ihre Hypotenusen nach innen zu liegen kommen und die größeren und kleineren Katheten sich entlang des Quadratumfanges aneinanderreihen (wobei jede Quadratseite gleich ist der Summe aus einer längeren und einer kürzeren Kathete). Auf diese Weise wird das ursprüngliche Quadrat neuerlich zerlegt, und zwar in vier rechtwinklige Dreiecke und das Quadrat über der Hypotenuse. Die vier Dreiecke sind gleich groß wie die zwei Rechtecke der ersten Zerlegung. Daher ist das Quadrat über der Hypotenuse gleich der Summe aus den beiden Quadraten - den über den Katheten -, in die, nebst den zwei Rechtecken, das ursprüngliche Quadrat anfänglich zerlegt wurde.
Mit sehr unfachmännischen Ausdrücken, aber ganz klar und mit unnachgiebiger Logik führte Guido seinen Beweis. Robin hörte zu, mit dem Ausdruck vollkommenem Unverständnisses auf seinem fröhlichen, sommersprossigen Gesicht.
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